Die Vorfahren

Kenntnisse über die Menschen, die vor uns gelebt haben und deren Gene wir in uns tragen,
haben wir oft nur dann, wenn wir sie persönlich gekannt haben.
Und das sind - hier in Mitteleuropa gegen Ende des 2.Jahrtausends nach Beginn unserer
Zeitrechnung - in der Regel zwei Generationen an die man sich bewußt erinnern kann.
Weitere kennt man nur mittelbar aus Berichten von noch lebenden Zeitzeugen.
Die meisten anderen verschwinden im ' Dunkel der Geschichte ' und mit ihnen ihr großer Beitrag
zur Grundlage unserer Existenz und unserem kulturellen Selbstverständnis.
Denn nicht nur die Aristokratie, die immer schon großen Wert auf die Kenntnisse über
ihre Vorfahren legte, sondern auch die ' einfachen ' Menschen haben eine Geschichte
die vielleicht nicht so ' interessant ' ist wie bei jenen, die es aber trotzdem wert ist,
dem großen Vergessen entrissen zu werden.

Die Ahnenforschung, d.h. die Darstellung unserer Vorfahren in ihrem persönlichen und
historischen Kontext - soweit er noch zu ermitteln ist - trägt dazu bei, das Verschwinden von
Existenzen in der unendlichen Dauer der Zeit zu verhindern.
Denn wer einen Namen hat und genannt wird - bei vielen ist es nur das - ist dann in seiner
nachexistenziellen Phase im Bewußtsein von zur Zeit lebenden Menschen vorhanden.
Der Name ist wie eine Bezeichnung unter einem leeren Bilderrahmen.
Gelingt es nun - mit möglichst vielen Informationen - dieses Bild zu ' zeichnen '
entstehen die Menschen der Vergangenheit in unserem geistigen Bereich wieder.
Sie leben dann weiter in unserer Vorstellung von dem, was sie waren, was sie sein wollten
und was sie uns hinterlassen haben - in einer virtuellen Welt, die das vollständige
Verlöschen im Nichts überwindet.
Dies erlaubt den Blick zurück auf unsere Herkunft und erklärt sehr viel von der Art und Weise
wie wir die Dinge sehen und warum wir das Eine tun und das Andere lassen.
Denn nur derjenige, der seine Wurzeln kennt, der weiß wo er herkommt, hat die Grundlage für
das Wissen um seine Existenz in der Gegenwart und vielleicht auch für sein Handeln in der Zukunft

Man schaut natürlich auch auf die Geschichte der eigenen Heimat, auf ihr regionales
Umfeld, auf die Handlungen derer, die Ereignisse gestaltet haben.
Es ist ein ungeheuer komplexes Gebilde von Menschen, Dörfern, Städten und Landschaften,
von persönlichen Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Tätigkeiten, von naivem
Gottesglauben und realitätsbezogenem Handeln, das sich vor dem Betrachter aufbaut.
Man lernt die Geschichte von ' unten ' zu sehen, aus der Position der Bauern, der Handwerker,
der Knechte, der Tagelöhner, der Bergleute, der Hüttenarbeiter; von Müttern die ihre
oft zahlreichen Kinder durchbringen müssen, von Vätern die immer auf der Suche nach
Erwerbsmöglichkeiten waren, um ihre Angehörigen zu versorgen und der drückenden
Steuerlast gerecht zu werden.
Es ist überwiegend die Geschichte der 'kleinen Leute', die nur wenige sichtbare Spuren
ihrer Existenz hinterlassen haben, deren Arbeit aber zum unverzichtbaren Grundstock
für das Leben ihrer Nachkommen geworden ist.
Sie waren selten die Nutznießer in der geschichtlichen Entwicklung, meistens jedoch
die direkten oder indirekten Opfer derjenigen, die über die wirtschaftliche und militärische
Macht im Land verfügten.

Es ist eine enorme menschliche Leistung erforderlich, wenn sich eine Familie über mehrere
Jahrhunderte hinweg immer wieder neu am Leben erhält; ein Leben, das meist voller Mühen
und Plagen war, durchsetzt mit Kriegen und Naturkatastrophen, daß die Mehrheit der heutigen
Zeitgenossen keine Vorstellung mehr davon hat und es nur sehr schwer durchstehen könnte.
Und so sind wir Menschen wohl mit eines der erfolgreichsten Modelle, im immerwährenden
Wettbewerb der Arten, die die Natur hervorbringt, am Leben erhält und wieder untergehen läßt.
Durch diese permanenten Schöpfungsvorgänge ist die Leistung der Vorfahren nicht verloren,
sondern lebt in ihren Nachkommen, in uns, weiter.
Denn der Mensch ist - nicht nur, aber auch - das Produkt seiner Gene und davon sind uns
viele von unseren Vorfahren vererbt worden. Wenn diese Gene nun auch die menschliche
Verhaltensweise beinflussen, dann haben sie, die Vorfahren uns ihre positiven
und auch ihre negativen Eigenschaften übermittelt - Eigenschaften, die uns weitertreiben
oder zurückhalten, die wir heute für unser Leben nutzbringend einsetzen, aber auch solche
die zum Schaden für uns und andere Menschen gereichen.
Und doch sind wir selbstbestimmende Wesen und haben somit die Freiheit unsere Veranlagungen
und Intentionen dahin zu steuern, wo sie den größten Nutzen und den geringsten Nachteil
für uns und unsere Mitgeschöpfe erzeugen.

Sind wir zur Zeit auch das Ende, so sind wir doch morgen nur ein weiteres Teil dieser langen Kette,
die das menschliche Leben auf unserem, immer ' kleiner ' werdenden, Planeten Erde fortsetzt.


Schmelz,  im Juli 1999

HANS   KARL   KÖNIG




Die Menschen werden schlecht wenn sie nicht an ihre Väter denken....
denn niemand wird sich seiner Taten schämen, wenn sich seine Kinder und Kindeskinder doch nicht an ihn erinnern.
Und niemand wird gute Taten vollbringen, weil die Kinder ja doch nichts davon wissen werden.

Tschingis Aitmatov

(kirgisischer Dichter, zitiert nach: B.Guggenberger: Unterwegs im Nirgendwo)


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